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Besondere Merkmale erkennen und sichern

Besondere Merkmale erkennen und sichern

Syncos 29.04.19 14:00

Vor strenger werdenden Vorschriften zur Produkthaftung kann kein Unternehmen der Fertigungsindustrie die Augen verschließen. Zumal nicht, wenn es auf internationalen Märkten aktiv ist. In den USA zum Beispiel sind Produkthaftungsvorschriften schon lange wesentlich umfangreicher als in Deutschland. Jedes Unternehmen, das im Rahmen seiner Geschäftstätigkeit Produkte auf dem Markt zur Verwendung bereitstellt oder ausstellt, muss sich außerdem mit dem Produktsicherheitsgesetz auseinandersetzen. Dessen §3 schreibt vor, dass die Markteinführung eines Produktes nur erlaubt ist, wenn es bei bestimmungsgemäßer oder vorhersehbarer Verwendung die Sicherheit und Gesundheit von Personen nicht gefährdet.

Was sind besondere Merkmale?

Es ist also sicherzustellen, dass Merkmale, die zu einer solchen Gefährdung führen können, rechtzeitig identifiziert und entsprechend dokumentiert werden. Kritische Merkmale sind solche, die in jedweder Hinsicht gesetzlichen Vorgaben zuwiderlaufen, Kundenforderungen nicht erfüllen oder generell ein erhöhtes Risiko hinsichtlich der Produkthaftung darstellen. Dass jedes Produkt bestimmte Merkmale aufweist, ist erst einmal banal. Bestimmte Merkmale aber sind besonders wichtig und bedürfen gesonderter Kontrolle bzw. zusätzlicher Maßnahmen. Denn weicht eines von ihnen vom vorgegeben Sollwert ab, gefährdet dies die Produktsicherheit und stellt damit bereits einen Verstoß gegen §3 ProdSG dar.

Der gängige Terminus für solche Eigenschaften lautet „Besondere Merkmale“. Man versteht darunter grundsätzlich Merkmale eines Produktes oder Parameter des Produktionsprozesses, die Auswirkungen auf die Funktions-, Betriebs- und Gebrauchssicherheit bzw. auf die Einhaltung behördlicher Vorschriften, das Erscheinungsbild, die Funktion und die Passform eines Produktes, seine Leistung oder weitere Verarbeitung des Produktes haben. Innerhalb dessen wird weiter differenziert: Dokumentationspflichtige Merkmale (Critical Characteristics), haben nach ISO/TS 16949:2009 Einfluss auf die Sicherheit und die gesetzlichen Vorgaben der Produkte. Funktionsmerkmale (Special Characteristics) beeinflussen die Funktion von Produkten und damit die Kundenzufriedenheit.

Besondere Merkmale bedürfen erhöhter Sorgfalt und sind im Zuge spezieller Prozesse zu identifizieren. Ein MES oder CAQ System mit integrierter Arbeitsplanung kann in diesem Rahmen ein wichtiges Hilfsmittel darstellen. Aus dem Arbeitsplan lässt sich per Mausklick der Prüfablauf mit den zu prüfenden Merkmalen mit Informationen zu Ablauftyp, Prüfmittel und den bereits erfassten Fehlern anzeigen.

Alle Bereiche des Produktentstehungszyklus als Quellen Besonderer Merkmale

Es gibt im Fertigungsunternehmen im Grunde keinen Bereich, der nicht von der Thematik betroffen wäre. Dies reicht von der Produktidee über Konstruktion/Entwicklung, Prototyping bis zur letztlichen Umsetzung. Auf jeder Stufe müssen die Besonderen oder Kritischen Merkmale definiert werden und ihre Einhaltung muss sichergestellt werden. Eine besondere Rolle in diesem Prozess spielt die Fehlermöglichkeitsanalyse FMEA (Failure Mode and Effects Analysis, in der Besondere Merkmale identifiziert, dokumentiert und deren Umsetzung verfolgt werden können. Die FMEA ist eine Methode zur Analyse von Fehlerrisiken. Sie dient der systematischen Risikoanalyse bei komplexen Systemen oder Prozessen.

Was bedeutet dies für Unternehmen des produzierenden Gewerbes? Es empfiehlt sich zunächst, einen Produktsicherheitsbeauftragten zu benennen, der durch Schulungen und entsprechende Berufserfahrung mit der Behandlung besonderer Merkmale vertraut ist. Dieser ist in der Regel auch autorisiert, Einzelteile in der Produktion sowie von externen Dienstleistern empfangene Lieferungen zu sperren, sollte von ihnen die potenzielle Gefahr eines Verstoßes gegen Sicherheitsvorschriften ausgehen.

Unter allen Industriezweigen widmet sich die Automobilindustrie dem Thema Besondere Merkmale in besonderer Weise. Das Thema wird intensiv in der IATF diskutiert, einer Arbeitsgruppe aus Vertretern der meisten nordamerikanischen und europäischen Automobilhersteller und Automobilverbänden, die sich mit der Harmonisierung der Standards zur Verbesserung der Produktqualität beschäftigt. Im Zusammenhang mit Besonderen Merkmalen ist hier insbesondere die Norm IATF 16949 zu nennen, die existierende allgemeine Forderungen an Qualitätsmanagementsysteme vereint. Zu beziehen ist sie unter
https://vda-qmc.de/zertifizierung/iatf/publikationen-iatf16949/.

Standard des VDA

Zur Bearbeitung der Besonderen Merkmale ist in jedem Fall eine spezielle Vorgehensweise erforderlich. Es gilt, diese von Anbeginn in ihren Produktionslenkungsplan einzubeziehen und allen Definitionen und Symbolen zu entsprechen, die vom Kunden vorgegeben wurden.  Es sind ferner alle Dokumente für die Steuerung des Produktionsprozesses – Zeichnungen, FMEA, Bedienungsanleitungen etc. – entsprechend zu kennzeichnen. Sie unterliegen wie die Qualitätsaufzeichnungen zu dokumentationspflichtigen Merkmalen einer besonderen Nachweisführung und sind mindestens 15 Jahre nach der letzten Eintragung aufzubewahren. Der VDA Band 1 (Dokumentation und Archivierung) schreibt sogar Eigenschaften des Aufbewahrungsortes vor, der geschützt sein muss vor Licht, Feuer und Nässe. Ferner müssen für alle Artikel, die als Dokumentationspflichtige Merkmale bzw. Critical Characteristics ausgewiesen sind, regelmäßige Produktaudits durchgeführt werden.

Der VDA hat zum Thema Besondere Merkmale einen eigenen Standard herausgegeben, um im Umgang mit ihnen zu schulen und generell das Verständnis für die Thematik zu verbessern. Der VDA-Standard zielt vor allem auf die Zusammenarbeit zwischen Kunde und Lieferant ab. Er stellt eine Prozessbeschreibung dar, wie Besondere Merkmale zu ermitteln, festzulegen und zu dokumentieren sind. Dazu wurde im zuständigen VDA-Arbeitskreis zunächst definiert, wie sich die Besonderen von Allgemeinen Produktmerkmalen unterscheiden. Demnach gibt es drei Kategorien von Merkmalen, die nicht über bereits bestehende Prozesse wie Funktionale Sicherheit oder Arbeitssicherheit geregelt sind: Sicherheitsanforderung, Produktsicherheit und Sicherheitsrelevante Folgen.

FMEA nicht die einzige Quelle für Besondere Merkmale

Aufschlussreich an dieser Stelle: Im Zuge des Definitionsprozesses wurde festgestellt, dass die FMEA nicht die alleinige Methode darstellt, um ein Besonderes Merkmal zu identifizieren. Vielmehr sind dafür auch Erfahrungen aus vorherigen Projekten heranzuziehen, Gefährdungsanalyse und Risikoabschätzungen. Auch Expertenteams und behördliche sowie gesetzliche Vorgaben können Quellen dafür darstellen, wann es sich um ein Besonderes Merkmal handelt. Der VDA definierte in diesem Zuge einen vierstufigen Filter, um aus der Menge an Merkmalen die Besonderen herauszufinden.

Um ein Besonderes Merkmal identifizieren zu können, müssen alle relevanten Funktionen und Forderungen an das Produktkonzept und die Erkenntnisse aus Vorgängerprojekten bekannt sein. Merkmale und Funktionen, welche Risiken bezüglich einer der drei genannten Kategorien enthalten können, fließen in einen Konzeptfilter für die Produktentwicklung ein.

Dem Vier-Filter-Konzept entgeht kein Besonderes Merkmal

Im Rahmen der weiteren Betrachtung passieren anschließend Erkenntnisse aus Detailbeschreibung, Pflichtenheft, Vorgängerprojekten und Auslegung sowie die Ergebnisse aus Simulation, Versuchen, Bewertung und Verifizierung einen Konstruktionsfilter für die Produktentwicklung. Dabei wird die Robustheit des Designs des betreffenden Produktes überprüft. Ist diese gegeben, wird das Merkmal nicht weiter untersucht; die Absicherung ist nachzuweisen und zu dokumentieren. Falls nicht, sollte das Unternehmen über eine Änderung der Konstruktion nachdenken. So stellt sich ein Merkmal etwa als „besonders“ heraus, wenn es übermäßig empfindlich gegenüber Herstellbedingungen oder kleinsten Änderungen in den Materialeigenschaften ist bzw. wenn Toleranzen im Prozess nur mit großem Aufwand eingehalten werden können. Der technischen Dokumentation obliegt es, die mittels des Filters identifizierten Besonderen Merkmale auszuweisen und an die Produktionsplanung zu übergeben.

Als dritte Filterstufe installiert der VDI einen Produktionsplanungsfilter für die Prozessentwicklung. Er stellt fest, ob das Produktionskonzept ausreichend abgesichert ist und verfolgt das Besondere Merkmal nicht weiter, sofern es im Konzept abgesichert ist. Auch dies unterliegt selbstverständlich der Nachweis- und Dokumentationspflicht. Ist die Absicherung nicht gegeben, sollte das Unternehmen sein Produktionskonzept ändern. Ist eine Änderung nicht möglich oder führt die Änderung nicht zur Absicherung, werden die Besonderen Merkmale in den Produktionsprozessfilter für die Prozessentwicklung übernommen. Dieser klärt methodisch, ob das Besondere Merkmal durch einen robusten Produktionsprozess abgesichert ist. Falls ja, muss es wiederum nicht weiter verfolgt werden. Auch der Produktionsprozess ist selbstverständlich nachzuweisen und zu dokumentieren.

Auf Basis seiner grundlegenden Definition und des Vier-Filter-Konzepts gibt der VDA-Band dem Anwender also praktische Hinweise für den Umgang mit Besonderen Merkmalen an die Hand. Gleichwohl muss jedes Unternehmen seinen Prozess zu deren Identifizierung individuell festlegen. „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“, dieses Prinzip hat sich in der Praxis bewährt, um bei der Produktentstehung für maximale Sicherheit und Zuverlässigkeit zu sorgen.

Sie haben noch Fragen zu Besonderen Merkmalen oder dazu, wie Sie Ihre Produktion noch weiter optimieren können? Vereinbaren Sie einen kostenlosen Beratungstermin und kommen Sie mit uns ins Gespräch!

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